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Wafa Sbeihs Kolumne

Wie lebt man im Alter?

11.10.2022

Als ich eine Ausbildungsakademie in Saarbrücken besuchte, wo ich den Kurs zur qualifizierten Betreuungskraft absolvierte, stellte die Lehrerin unserer Gruppe ein paar Fragen: Gibt es Pflegeheime für ältere Menschen in Syrien? Wenn syrische Familien keine Zeit für die Betreuung haben, wie gehen sie dann z. B. mit ihren Eltern um?

Tatsächlich überraschten mich die Fragen zum Leben in Syrien nicht. Ich finde es sogar gut, dass sich die Menschen für meine Heimat interessieren. Vor allem kennen sie die Situation in Syrien nicht. Sie können nur vermuten. Mit diesem Artikel würde ich gerne  darüber erzählen.
Meinen Vortrag über die Pflege älterer Menschen in Syrien damals vor der Ausbildungsakademie begann ich mit der Erinnerung an meinen ersten Besuch im berühmtesten Pflegezentrum in Damaskus „Dar Al-Saada“. Das wurde 1977 von einer Gruppe syrischer Frauen, darunter Mrs. Lamis Al-Haffar, die Tochter des ehemaligen syrischen Ministerpräsidenten, gegründet.  Lamis Al-Haffar hat trotz aller Krisen, die das Haus während des Krieges durchmachte, ihr Leben in den Dienst des Hauses gestellt.
 
Das „Haus des Glücks (Dar Al-Saada)“ war nicht das erste seiner Art in Damaskus. Die St. Gregory Orthodox Society wurde 1912 gegründet. Sie gehört zu der christlichen Religion.
Die St. Gregory Orthodox Society sorgte dafür, dass sich Altenpflegeeinrichtungen und Waisenhäuser in ganz Syrien verbreiteten. Einige von ihnen, in Gebieten in denen sich der Konflikt verschärfte, wurden  außer Dienst gestellt.
Der Grund, warum ich 2001 zum ersten Mal in das Pflegeheim Dar Al-Saada ging, war ein Interview mit dem wichtigsten Muwashahat-Sänger und -Dichter in Syrien. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entschied sich „The Damascus Boy“ in die Pflegeeinrichtung zu ziehen, weil er nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Er lebte und  starb allein.
In diesem Haus lebten auch die wichtigsten Persönlichkeiten aus Kunst, Gesellschaft und Politik. Die Einrichtung war elegant und bot Patienten und Bewohnern alle notwendigen Dienstleistungen, ähnlich wie Pflegezentren in Deutschland.
Die Entscheidung älterer Menschen und die Gründe für den Umzug in Pflegezentren sind auf der ganzen Welt fast gleich.  Arabische und insbesondere syrische Familien lehnen dies aber oft ab, aufgrund einer in diesen Gesellschaften verankerten Vorstellung von Scham. Es heißt: Schande über die Kinder, die ihre Eltern in ein Betreuungszentrum schicken. Das ist verwerflich und sie werden in der Gesellschaft geächtet. Man sagt über sie: „Wer nicht gut zu seinen Eltern ist, wird nicht gut zu anderen sein.
 
Zusätzlich gilt für die meisten von ihnen der Text des Korans, worin es heißt, dass man zu den Eltern wohltätig sein soll. Es gibt dazu ein Sprichwort aus dem Koran:
 
۞ وَقَضَىٰ رَبُّكَ أَلَّا تَعْبُدُوٓاْ إِلَّآ إِيَّاهُ وَبِٱلْوَٰلِدَيْنِ إِحْسَٰنًا ۚ إِمَّا يَبْلُغَنَّ عِندَكَ ٱلْكِبَرَ أَحَدُهُمَآ أَوْ كِلَاهُمَا فَلَا تَقُل لَّهُمَآ أُفٍّۢ وَلَا تَنْهَرْهُمَا وَقُل لَّهُمَا قَوْلًا كَرِيمًا

Das bedeutet: „Und wir befehlen dem Menschen, freundlich zu ihren Eltern zu sein“ und „Wir befehlen den Menschen, sich um ihre Eltern zu kümmern.“

Vielleicht sieht die Realität in der schwierigen Situation Syriens jetzt anders aus. In dem Fall, wenn ein alter Mensch allein ist, wird er weder von einem Sohn oder Tochter noch von seiner Familie oder Verwandten unterstützt und gepflegt. Wer finanziell dazu in der Lage ist, der setzt eine Privatdame ein, die bei den Eltern wohnt und sich um alle Belange kümmert, oder eine Krankenschwester, die sie zu bestimmten Zeiten besucht.
Klar, Damaskus hat sich sehr verändert. Seine Sitten und auch seine Menschen verändern sich mit den schwierig gewordenen Lebensumständen. Die Kriegsbedingungen ließen viele ältere Menschen nach der Trennung von ihren Kindern und Familien ohne Ernährer zurück. Einige von ihnen verließen völlig zerstörte Gebiete, andere flohen aus unsicheren Gebieten. Deswegen gibt es keine neuen offiziellen Statistiken über die Zahl der älteren Menschen in Syrien. Aber die neuesten Schätzungen zeigen, dass die Zahl 1,7 Millionen ältere Menschen überschritten hat. Bei einer geschätzten aktuellen Rate von 7,2 % der Bevölkerung wird die Zahl voraussichtlich 5,7 Millionen im Jahr 2050 erreichen,was 13 % der Gesamtzahl der Syrer ausmacht.
Es kam mir sehr paradox vor, als ich mich kürzlich an der Organisation eines Seniorengrillens in einem Pflegezentrum in der Nähe von Saarbrücken beteiligte.
Wie fühlte ich all diese Zufriedenheit und Glückseligkeit, als ich die Freude auf den Gesichtern der Bewohner sah, als sie tanzten und sangen und in der Natur saßen und die frische Luft rochen. Während ich am nächsten Tag gelesen habe und Videos von älteren Syrern sah, die über die miserable Situation in Syrien sprechen. Grundbedürfnisse werden zum Teil nicht befriedigt. Zum Beispiel das Fehlen von frischem Wasser, Medikamenten, Stromausfälle, Verlust medizinischer Geräte oder einem Rollstuhl.
Ein syrischer Bewohner im Video sagte: „Das Leben in einer Pflegeeinrichtung ist unerträglich.Es ist ein langsamer Tod und wie ein Friedhof, der für uns bereit ist.
Der verzweifelte Schrei der alten Menschen bedeutet wörtlich: "Je größer der Verlust, desto geringer ist die Würde des einzelnen Menschen".
Die Würde älterer Menschen wird erreicht, wenn die Person von der Fürsorge und Aufmerksamkeit ihrer Familienmitglieder umgeben ist und wenn sie sich zu Hause aufhält und nicht in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist. Die Pflegeeinrichtungen im Saarland kann ich vielleicht nicht zählen, aber das Mindeste, was man über sie sagen kann ist, dass sie einen großen Teil dessen erfüllen, was man sich wünscht, wenn man alt ist.
Am 1. Oktober war der Internationale Tag der älteren Menschen.
Ich wünsche den alten Menschen ein gesundes Leben und Frieden. “Das Lachen weicht nicht von einem Gesicht, das mit Zeilen von Zeitgeschichten gefüllt ist.“

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Landesverband Saarland